Neues aus dem Verlag 2/2025
«Ohne Anklage, ohne Bedauern schreiben: Als fasste ich ein fremdes, unfassliches Wunder ins Auge.» (Aus «Partita»)
Gertrud Leutenegger zum Gedächtnis
von Bernhard Echte
Die Nachricht, die uns vor drei Wochen erreichte, ist bis heute für uns schwer fassbar: Am 20. Juni ist Gertrud Leutenegger in ihrem Heimatort Schwyz im Alter von 76 Jahren verstorben. Unser Verlag hat in ihr eine besondere Freundin und grosse Autorin verloren. Die Ereignisse sind uns noch zu nah, als dass wir Gertrud Leutenegger hier angemessen würdigen könnten. Erst spätere Zeiten werden erkennen, welch bedeutende Autorin und aussergewöhnliche Person sie war.
Als sie 2021 den Kunstpreis Zollikon erhielt, vertraute sie mir die Laudatio an, deren Wortlaut hier folgen soll. Vor dieser Rede hatte sie bei der Preisverleihung jene wundervolle Liebesgeschichte aus dem sizilianischen Ort Modica vorgetragen, die sich in ihrem letzten Roman «Späte Gäste» auf den Seiten 153 bis 157 findet. Darauf wird zu Beginn Bezug genommen.
Der Zitronenfalter
Laudatio auf Gertrud Leutenegger
Sehr geehrte Damen und Herren
Ich muss zugeben, dass es mir schwerfällt, nach dieser in jeder Hinsicht wundervollen Geschichte zu Ihnen zu sprechen, denn ich habe den Eindruck, damit etwas wegzunehmen von ihr. Ich meine zu spüren, dass diese Geschichte in Ihnen noch nachklingt, nachklingen will und darin nicht gestört werden sollte. Es ist etwas zutiefst Berührendes in ihr, eine Melancholie, die uns wie ein schönes trauriges Märchen anweht, eine Sehnsucht, ein Ahnen, ein Glücksversprechen – ohne Aussicht und Erfüllung, und vielleicht gerade darum so rein. Leute wie ich haben von Berufs wegen die törichte Angewohnheit, immer nach dem Woher und Warum einer Wirkung zu fragen, dabei zeigt gerade diese Geschichte, dass die einzig wirkliche Antwort auf solche Fragen nicht in irgendwelchen gelehrten Sätzen liegt, sondern in ihrem Verschwinden und Verstummen, da sich alle weiteren Auslassungen hier erübrigen. Ich sollte also eigentlich den Mund halten und schweigen, denn das tiefe Glück, das uns diese Geschichte trotz ihrer Traurigkeit schenkt, ist ein Geheimnis, das sich nicht erklären lässt, sondern dessen wir nur inne werden können und im Zuhören soeben inne geworden sind.
Bitte denken Sie jetzt nicht, dass ich es mir hier einfach machen will. Ich glaube vielmehr, dass letztlich alle tiefen Fragen des Lebens nur die Antwort des Verschwindens kennen, ja, dass wir die tiefen Fragen sogar genau daran erkennen können. Nehmen Sie beispielsweise das geheimnisvolle Phänomen der Gesundheit. Wie ist es mit ihr. Weiss die Medizin etwas von ihr, oder ist sie nicht eigentlich nur die Wissenschaft von der Krankheit, während sich alle Fragen erübrigen und verschwinden, wenn wir gesund sind, ja, dass Gesundheit gerade an dieser Fraglosigkeit von Kraft, an diesem selbstverständlichen Zuhause in uns selbst erkennbar ist. Haben nicht auch Sie schon – um ein banales Beispiel zu nennen – die merkwürdige Erfahrung gemacht, unter andauernden Rückenschmerzen gelitten zu haben, die sich gegen alle ärztlichen oder physiotherapeutischen Manipulationen behaupteten, die dann aber eines Morgens wundersam verschwunden waren – sogar ohne, dass es Ihnen auffiel? Es war geschehen und nicht zu erklären. Und ist es nicht mit dem Glück genauso? Mit dem Erlebnis der Schönheit? Mit dem Ergriffenwerden durch Dichtkunst? Mit dem Gefühl von Geborgenheit? Mit der Frage, wer wir sind?
Dies führt mich unmittelbar zu den Personen, die Sie in Gertrud Leuteneggers Büchern kennenlernen können, und ich spreche hier ganz bewusst von Personen, nicht von Figuren. Diese Menschen, denen Sie dort begegnen, haben fast alle – oder eigentlich: alle – keine einfache Existenz; vielmehr ist ihr Leben von Schicksalsschlägen geprägt: vom frühen Verlust der Eltern, von scheiternder Liebe, von materieller Knappheit und harter Arbeit, von körperlicher Entstellung und sozialer Marginalisierung, wobei auffällt, dass Aus- und Einwanderer in Gertrud Leuteneggers Büchern fast omnipräsent sind. Doch ungeachtet der Härte ihres Schicksals, trotz der teilweise krassen Gemeinheiten des Lebens, denen sie ausgesetzt sind, fühlen oder verstehen sich all diese Menschen nicht als Opfer (selbst wenn Gertrud Leutenegger durchaus zu erkennen gibt, dass die Verletzten von Brand- und Bombenanschlägen, von willkürlicher Gewalt und Krieg sehr wohl Opfer sind). Aber nie werden sie als Benachteiligte dargestellt, die sich dazu berechtigt fühlen, dem Schicksal den Schmollmund oder die harte Anklägermiene zu zeigen, oder an denen demonstriert werden soll, wie schlecht diese Welt ist bzw. wie sie – ex negativo – eigentlich auszusehen hätte. Nein, Gertrud Leuteneggers Bücher lassen das Sein in allen Aspekten gelten und werten es nicht zugunsten eines moralischen Sollens ab.
Dazu gehört, dass all diese Menschen ihrer ganzen Natur nach gesund (oder innerlich «geheilt») sind; sie besitzen eine ebenso natürliche wie wundersame Würde und Stärke — die nur einer Versicherung bedarf: der Erinnerung und Erzählung. All diese Personen kennen einen Fonds des Unentweihten in sich – wissen aber auch um schmerzhafteste Erlebnisse, die sie als etwas «Versiegeltes» mit sich tragen, wie dies im vorletzten Roman «Panischer Frühling» genannt wird. Dieses Unentweihte liegt – ebenso wie das «Versiegelte» – meist in ihrer Kindheit oder genauer: in der Geschichte, die sie erinnern. Man denke dabei bitte nicht Psycho-Muster wie Idealisierung und Verdrängung, das würde die Sache komplett verfehlen, ja, in ihr Gegenteil verkehren. Denn es gehört gerade zum Charakteristischen all dieser Personen, dass sie die Tür zur Erinnerung immer offen lassen, dass sie die Erinnerungen ohne Scheu kommen und gehen lassen und in ihnen das unsichtbare Zentrum ihres Lebens verspüren.
«Als Kind durfte ich an den langen Nachmittagen mit meiner Mutter schlafen, ganz den Biegungen ihres Rückens angekuschelt, ganz geschützt in ihrer Wärme und ihrem regelmäßigen Atem», heisst es zu einer dieser Erinnerungen, die bereits in Gertrud Leuteneggers erstem Buch «Vorabend» erzählt wird (S. 43). Allerdings darf dabei der Kontext nicht übersehen werden: Dass diese Erinnerung auftaucht, als die Ich-Erzählerin gedankenlos eine abblätternde und von Rissen durchzogene Zimmerdecke betrachtet, die ebenso sehr etwas Sinnbildhaftes hat wie die Erinnerung, die sie hervorruft. Diese Erinnerung an den Nachmittagsschlaf mit der Mutter während der Sommerferien auf dem Pfarrhof des Onkels wird Gertrud Leutenegger fast 40 Jahre später im erwähnten Roman «Panischer Frühling» nochmals intensiv heraufbeschwören. Doch, wie gesagt, die emportauchenden Bilder der Erinnerung und der Versuch, darin eine eigene Geschichte zu finden, prägen schon ihren ersten Roman. Geschichte ist dabei im übrigen nicht rückwärtsgewandt gedacht, sondern als das einzige, was lebendige Entwicklung ermöglicht: «Was nicht gewachsen ist, was keine Geschichte hat, kann uns nicht verändern», heisst es in «Vorabend».
Wenn ich an dieser Stelle eine kleine persönliche Reminiszenz einflechten darf: Von diesem Buch «Vorabend» erfuhr ich das erste Mal im Jahr 1982 hier in Zollikon. Und das kam so: Als blutjungem Mann hatte mir der damals hier lebende Rechtsanwalt Dr. Elio Fröhlich auf zweifache Weise unversehens den Himmel geöffnet. Einerseits hatte er mich beauftragt, zusammen mit Werner Morlang den Versuch zu unternehmen, Robert Walsers rätselhafte «Mikrogramm»-Manuskripte zu entziffern. Andererseits sagte er mir, ich solle in das Haus der verstorbenen Verlegerinnen Lilly und Selma Steinberg an der Schwendenhaustrasse 19 oben an der Rehalp einziehen und dessen Renovation koordinieren, damit es anschließend für Aufenthaltsstipendien von Schriftstellern genutzt werden könne. Auf Grund dieser märchenhaften Wendung meines Lebens betätigte ich mich in der Folge einerseits als versponnener Mikrogramm-Entzifferer, andererseits als tatkräftiger Haussanierer, bis dann im Herbst 1982 die erste Stipendiatin einzog. Es war dies die 2017 leider verstorbene Autorin Margrit Baur, die es im übrigen auch verdient gehabt hätte, mit Ihrem Kunstpreis ausgezeichnet zu werden, doch beim zweiten Stipendiaten Reto Hänny ist Ihnen dieses Versäumnis ja dann nicht mehr unterlaufen. Da ich in dem Haus noch eine Weile als Pedell oder «Gehülfe» fungierte, lernte ich rasch auch Margrit Baurs literarische Vorlieben kennen, und schon in den ersten Wochen erzählte sie mir, dass es nur einen Erstling in der Literatur gebe, der sie wirklich neidisch gemacht habe: Gertrud Leuteneggers «Vorabend». Es klingt mir noch heute im Ohr, wie glaubhaft sie das Wort «neidisch» damals aussprach; die Intonation war trotz aller Selbstironie wahrhaft grell gelb.
Es verstand sich von selbst, dass ich meine Gehülfen-Ehre darin erblickte, dieses Buch dann ebenfalls zu lesen, wobei mich die Frage begleitete, was darin wohl Margrit Baurs Neid erweckt habe. Sie hatte 1981 das Buch «Überleben. Eine unsystematische Ermittlung gegen die Not aller Tage» publiziert – ein protokollartiger Text über die zähen Bemühungen, sich gegenüber der niederdrückenden Monotonie des Büroalltags und der privaten Vereinsamung in der anonymen Vorstadt zu behaupten. Dieses Buch hat gewiss auch heute noch Bestand, ja sogar unverminderte Aktualität, doch eines fehlte ihm: die rebellische Vitalität von Gertrud Leuteneggers «Vorabend» – wobei es bekanntlich immer das schmerzhaft Entbehrte ist, was einen neidisch macht. Im «Vorabend» gibt es zum Beispiel diesen Satz: «Ich lebe nicht gerne, wo man sich nicht austoben und wo man nicht ganz unsichtbar sein kann.» (S. 19) Und es gibt eine ganze Reihe von Passagen, die den Paradigmen der Psychiatrie temperamentvoll und unerschrocken widersprechen. Wenn Margrit Baur den Begriff «Depression» zwar nicht benutzte, sich daran aber abgearbeitet hatte, so liess Gertrud Leutenegger das medizinisch-psychiatrische Denkmuster und seine Institutionen grundsätzlich nicht gelten. «Diese hygienische Distanzierung. Diese feige Hygiene», heisst es dazu nur knapp. Man könnte dies als billigen Verbalismus, als bloß rhetorische Radikalität abtun, aber nein: die Erzählerin macht die praktische Probe aufs Gesagte und geht in der gescholtenen Psychiatrie arbeiten. Zu ihren Erfahrungen schreibt sie: «Nachts, wenn du in einem Irrenhaus bist, zerfällt dir seine Totalität, wandern diese Risse des Daseins gesondert auf dich zu, gräbt sich dir das aufgehäufte Leiden in einzelnen Stichen zwischen die Gedanken. Ein Irrenhaus. Psychiatrische Klinik heisst es heute. Warum sagt man nicht mehr: ins Irrenhaus gehen. Im Narrenhaus verschwinden. In dem Wort lag noch etwas wie ein Triumph, eine königliche Schnoddrigkeit der Gesellschaft gegenüber. Und die Verrückten, denen man wie großen Verbrechern insgeheim eine bewundernde Scheu entgegenbrachte, man betrachtete sie, als gingen sie mit heiligen Visionen schwanger.» (S. 47) Ja, da ist Leiden. Ja, da ist auch Scheitern und Unglück. Ja, da mag auch Wahn sein. Aber auch Selbstbehauptung und Stolz. Krankheit dagegen wohl eher nicht.Verrückte und Irrsinnige treten in fast alle Bücher von Gertrud Leutenegger auf, und zwar nicht als Fehlfarben der Entwicklungspsycholgie oder als Mängelexemplare genetischer Reproduktion, sondern als Menschen mit rätselhaftem Schicksal, einer gewaltigen irrlichternden Energie und – nicht zuletzt – einem eigenartig treffsicheren Instinkt. Wenn Sie z.B. den Roman «Pomona» aus dem Jahr 2004 lesen, werden Sie nie mehr jenen Sirio aus dem sogenannten Kartoffelzimmer vergessen, der immer dann, wenn im Dorf etwas Feierliches oder gar Salbungsvolles vor sich geht, den allgemeinen Gefühlsgleichklang nach Kräften sabotiert. Zugleich aber scheint er sehr genau zu verstehen, was Orion, jenen kühnen, aber notorisch scheiternden Architekten und Hobby-Astronomen, an dem oberhalb des Dorfes gelegenen Pestkirchlein anzog. Orion ist der Lebenspartner der Erzählerin, dessen Requiem Gertrud Leutenegger 15 Jahre später in ihrem bislang letzten Roman «Späte Gäste» geschrieben hat, d.h. jenem Buch, aus dem sie vorhin die wunderbare Geschichte aus Modica gehört haben.
Orion, Sirio – welch himmlische Namen, mag einem dabei auffallen. Auch eine Serafina kommt hier ja vor. Ich glaube, über diese Namen sollte man nicht einfach nur arglos hinweglesen. Namen üben eine merkwürdig prägende Kraft auf uns aus, denn sie sind keineswegs so individuell, wie wir vielleicht meinen könnten. In ihnen haben sich vielmehr zahllose vorrangegangene Leben sedimentiert und verdichtet, sie enthalten ein uns immer schon vorauslaufendes Programm, ob sich die Namensgeber darüber nun Rechenschaft abgelegt haben oder nicht. Eine Autorin wie Gertrud Leutenegger aber hat dies in jedem Fall getan, sie weiss sehr genau um die überindividuelle Dimension von Namen, und sie gelten ihr als Indiz, dass wir generell viel mehr sind als nur Individuen mit einer sogenannten Identität. Unsere Epoche ist allerdings von einem Identitätswahn und einer gleichzeitigen Allegorienblindheit geschlagen wie kaum eine zuvor, weswegen wir fast kein Sensorium mehr dafür haben, dass das Individuelle nur eine kleine Zwischenzone bildet zwischen den tiefen geschichtlichen Sinnbildern, zu denen sich Namen und Allegorien verdichtet haben, und andererseits der identitätssprengenden Freiheit des Alogischen und «Verrückten», eine Freiheit wie wir «Normalen» sie nur unversehens unter Masken erlangen. Wenn Sie die Bücher von Gertrud Leutenegger lesen, wird Ihnen auffallen, dass in sehr vielen von ihnen die Fastnacht eine ganz besondere Rolle spielt: das Narrentum und dieses wunderbare Gegenwartsgefühl, wenn man Unsinn macht, wenn alle miteinander Unsinn machen.
Zwischen diesen Polen der alten Namens-, Stern- und Sinnbilder auf der einen Seite – und der großen Entgrenzung der Fastnacht auf der anderen versuchen sich die Personen in Gertrud Leuteneggers Büchern ihrer selbst und ihrer Geschichte inne zu werden. Sie tun dies mit zarter Bestimmtheit und Sorgsamkeit, denn sie wissen, dass es auf die Nuancen ankommt, auf Präzision im Detail – in der inneren wie der äußeren Wahrnehmung. «Es geht um unsere eigene Substanz», heisst es dazu an einer Stelle, «um unsere Lebenswurzel». Das sind natürlich unsichtbare Dinge, doch sie sind da, ja, sie machen den Urgrund unseres Lebens aus. Gertrud Leutenegger hat sich dazu, soviel ich sehe, nur ein einziges Mal programmatisch und expressis verbis geäussert – in dem frühen Text «Der Tod kommt in die Welt» von 1977. Der Tod, den sie darin beschreibt, ist nicht der natürliche, der Teil jedes einzelnen Lebens ist, sondern es ist die besinnungslose Nekrophilie der Maschine, die zerstörerische Unterwerfung der Natur und die Blindheit gegenüber jenem Unsichtbaren, wie wir es zum Beispiel im Gesicht der Kindheitslandschaft vergegenwärtigen können. «Wir wissen nicht mehr, dass die Erde lebt, dass die Seen atmen und die Berge hellwach in der Nacht stehen. […] Die Naturmissachtung ist nur der Anfang der Missachtung der menschlichen Seele. […] Eine Zerstörung ruft nach der anderen, rechtfertigt sie, stumpft uns ab. Wir sind» – so die Quintessenz – «wir sind verwahrlost.»
Gegen diese Verwahrlosung, die sich nicht ins eigene Gesicht zu sehen wagt, hat Gertrud Leutenegger seit Beginn angeschrieben – nicht, indem sie angeklagt, entlarvt oder verurteilt hätte. Im Gegenteil. Von Anfang an wusste sie auch: «Die Köche des Fanatismus haben die Geschichte verdorben.» Bei ihr hingegen geht es um Bewahren und Wiederfinden, um Gewissenhaftigkeit im Umgang mit uns selbst, um das Erkennen der feinen Verbindungsfäden unserer Erinnerung, um das Weben eines Zusammenhangs.
Auf diese Weise sind all die 17 Bücher, die Gertrud Leutenegger veröffentlicht hat, in vielen Details hintergründig miteinander verbunden und verwoben. Ein Beispiel zum Abschluss: In jenem kleinen Taschenbuch, das vom eben erwähnten Text «Der Tod kommt in die Welt» eröffnet wird, finden Sie am Ende den Text «Reise durch die Miniatur». Darin geht es um erste Eindrücke von der Übersiedlung in ein Dorf am Fuße des Monte Generoso. Die Erzählerin tritt in ein verlassenes Steinhaus, aus dem sie die Kälte von Jahrhunderten anweht. Das Treppenhaus hat einen Freskenhimmel, mit einer kleinen Darstellung, die ihr wie «längst erstarrt» erscheint. Dreissig Jahre später – in dem schmalen Prosaband «Das Klavier auf dem Schillerstein», den unser Verlag herausbringen durfte – kommt Gertrud Leutenegger nochmals auf dieses Treppenhaus zu sprechen und erweckt das «längst erstarrte» Fresko wieder zum Leben. Die Erzählerin ist unterdessen zurück in die Großstadt gezogen; sie hat aus ihrer Zeit in jenem Tessiner Dorf aber noch die Gartengeräte aufgehoben, die nun nutzlos im Keller stehen – wie ein Sinnbild des Älterwerdens, des Abschiednehmen-Müssens. Und sie stellt fest: «Nichts Äußeres mehr, weder Treppenhaus, noch Garten, drückt meine Lebensart aus. Alles wird weniger. Aber die geliebten Menschen sind da, ein Seezipfel, der aufleuchtet, die Blutbuche vor den Fenstern, der Herzschlag der Katze unter dem schwarzen Fell. Wie fordert das Leben uns heraus, immer leichter zu werden. Im Innern nimmt das einst Sichtbare Zuflucht, erwacht zu fernem Klang, steht als ungreifbare Architektur wieder auf, wird Rhythmus, Glanz. Beinahe vergass ich: Es gab doch etwas im Treppenhaus von Cabbio. Weit oben, im nur schwach erkennbaren Freskenhimmel, noch transparenter als die Wolken gemalt, schwebte ein winziges, flirrendes Wesen, das ich nie jemandem zeigte. Mehr noch, ich verheimlichte es. Es schien, in seiner geisterhaften Grazie, auf der Flucht zu sein. Oder schon am Verschwinden? Es war ein Zitronenfalter.»
Von Gertrud Leutenegger sind bei NIMBUS erschienen:
– Das Klavier auf dem Schillerstein. Prosa (2017)
– Partita. Notate (2022, vergriffen)