Newsletter 9/2018

«Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge»
 

Die beiden Autoren Michael Ruetz und Astrid Köppe haben mehr als tausend lokale, regionale und internationale Archive kontaktiert, um eine konkrete Vorstellung davon zu gewinnen, was am 9. November 1938 in der «Reichskristallnacht», wie die Nazis ihren Terror nannten, geschehen ist: Was der ‹ganz normale› Bürger getan, gebilligt und gesehen hat bzw. gewusst haben muss. Die Recherche förderte eine ungeahnte Fülle an Bildern und Augenzeugenberichten zutage, die eine weitreichende Komplizenschaft von Tätern und Mitläufern zeigen: hier die Zerstörungswut und triumphierende Häme des entfesselten Mob, dort die feige Neugier der Zuschauer mit den Händen in den Taschen. Die Fotos aus ganz Deutschland dokumentieren, wie leicht auch und gerade in der ‹Provinz›, wo jeder jeden kannte, die Gewaltbereitschaft zu entfesseln war – und wie wenig Mut und Zivilcourage sich dagegen erhob. So markiert der 9. November 1938 den Probelauf und Anfangspunkt des Holocaust – unter aller Augen.
Dem Band «Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge» ist eine Rede von Christoph Stölzl, dem Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums, vom 9. November 1988 beigegeben, die sich der Frage widmet, wie das kollektive Gedenken an einen solchen Tag des Verbrechens aussehen könnte – oder müsste. Denn selbst hier droht eine Gedenktags-Routine, als wäre dieser Tag ein historisches Datum wie viele andere – zumal seit dem 9. November 1989 das neue deutsche Einigkeitsgefühl diese Frage in den Hintergrund gedrängt worden ist. Ein Essay von Michael Ruetz über den deutschen Umgang mit dem Datum des 9. November beschließt den Band.
Gedenkveranstaltung und Buchpräsentation am Freitag, den 9. November 2018, 19 Uhr, in der Akademie der Künste, Pariser Platz, Berlin mit einer Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und einem Podiumsgespräch mit Michael Ruetz und Astrid Köppe. Weitere Informationen hier.

Cover und Innenansichten des Buches. Michael Ruetz: Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge. EUR 29.80 / CHF 36.00, ISBN 978-3-03850-050-6

«Leben nach dem Überleben» in Münster 

Helena Schätzles beeindruckende Bilderserie «Leben nach dem Überleben» über Holocaust-Überlebende in Israsel ist noch bis zum 15. November in Münster in der LWL Bürgerhalle zu sehen. Die Wanderausstellung ist dreisprachig konzipiert (Deutsch, Englisch, Hebräisch).  Der gleichnahmige Bildband ist im Jahr 2016 bei NIMBUS erschienen.
Siebzig Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung der Konzentrationslager vergangen. Die Überlebenden der Shoah wurden 1945 gerettet, doch schwere Traumata prägen ihr Leben bis heute. Das Leben nach dem Überleben – was bringt es mit sich, und wie kann man es begleiten? Die Fotografin Helena Schätzle hat aufgemacht, die Geschichten der Überlebenden neu zu dokumentieren. Die Bilder nehmen den Betrachter mit nach Israel, in Wohnungen, auf Spaziergänge und in bunte, lebendige Familien. Sie vermitteln intime Einblicke in eine wiedergewonnene Gegenwartsfreude, aber auch Momente tiefer Einsamkeit – Fotos, wie man sie von Überlebenden der Shoah in dieser Form noch nicht gesehen hat. Sie veranschaulichen die emotionalen Spuren, die der Holocaust hinterlassen hat – mit allen Nöten und Hoffnungen, die mit der Aufarbeitung der traumatischen Vergangenheit verbunden sind.
In engem Austausch mit den Überlebenden und ihren Nachkommen hat Helena Schätzle einen Band geschaffen, der die Präsenz der Vergangenheit und das andauernde Leid der Überlebenden nachvollziehbar macht und den Verletzungen der Seele eine Bildsprache gibt. Zugleich sind die Bilder Zeugnisse einer zutiefst beeindruckenden Vitalität und Lebensbejahung.
Ab dem 17. November bis zum 27. Januar wird Helena Schätzles Arbeit «9645 Kilometer Erinnerung» im Zuge einer «gute aussichten»-Ausstellung in der Städtischen Galerie in Nordhorn gezeigt. Der gleichnamige Bildband erschien 2011 bei NIMBUS. 

Oben: Leben nach dem Überleben. Devoted to life. Unten: 9645 Kilometer Erinnerung. 

Albert Debrunner über Hermann Kesten im Bodman-Haus
 

Hermann Kesten (1900-1996) ist eine Jahrhundertgestalt. Er prägte die Literaturszene der Weimarer Republik, war eine zentrale Figur des Exils und trug wesentlich zu den Debatten der jungen Bundesrepublik bei. Er verfasste zahlreiche Romane und Erzählungen, versuchte sich als Dramatiker und schrieb Gedichte. Als Essayist machte er sich vor allem nach dem 2. Weltkrieg einen Namen. Unvergessen sind seine Porträts berühmter Kollegen, die unter dem Titel «Meine Freunde, die Poeten» erschienen. Bis zuletzt blieb Kesten ein kritischer Geist, der das Zeitgeschehen pointiert kommentierte.
In seinem Roman «Die fremden Götter», 1948 in New York entstanden und ein Jahr später in Amsterdam erschienen, setzt Kesten sich intensiv mit religiösem Fanatismus auseinander. Nizza, nach Ende des Krieges: Das Ehepaar Schott hat wie durch ein Wunder die KZ-Haft überlebt und ist heimgekehrt an den Ort, wo sie vor der Deportation ihre Tochter Luise zurücklassen mussten. Diese war in einem Kloster versteckt und ist mittlerweile Katholikin, was ihre Eltern nicht ertragen. Die daraus entstehenden Konflikte changieren zwischen Groteske und tiefer Tragik - und sind heute, leider, wieder bestürzend aktuell.
Albert M. Debrunner hat im Jahr 2018 eine Biographie über Hermann Kesten vorgelegt, die unter dem Titel «Zuhause im 20. Jarhundert» bei NIMBUS erschienen ist. Im diesjährigen Frühling fungierte er als Herausgeber des Romans «Die fremden Götter». Keiner kann so spannend und lebhaft wie er über Kesten berichten, den er in dessen späten Basler Jahren kannte. Am Freitag, den 16. November ist Albert M. Debrunner um 20 Uhr im Bodman-Haus in Gottlieben zu Gast und berichtet über den Autor und insbesondere den Roman «Die fremden Götter». Weitere Informationen hier.

Hermann Kesten: Die fremden Götter. Roman. Darunter Albert M. Debrunner, Kestens Biograph.